In Indien ist das Neujahr kein einzelner Countdown um Mitternacht. Es kommt nicht mit Partyhüten und Champagnergläsern. Es kommt sanft, wie eine Stille vor dem Morgengrauen, wie eine Brise, die durch Tempelglocken weht. Es erscheint in verschiedenen Jahreszeiten, unter verschiedenen Himmeln, durch uralte und sich wandelnde Rituale. Hier ist Zeit kein Quadrat auf einem Kalender; sie fließt im Rhythmus von Sonne und Erde, Samen und Geist, Ernte und Hoffnung. Und so trägt das Neujahr in ganz Indien viele Namen, jeder ein Echo der Art einer Gemeinschaft, neu zu beginnen.
Im Norden lodert Baisakhi durch Punjab mit dem goldenen Glanz der Senffelder und dem Puls der Dhols, die über weite Ebenen hallen. Gefeiert als das sikhische Neujahr ist das Fest eine kraftvolle Hommage an Fülle und Gemeinschaft. Weiter oben, in den stillen Tälern von Kaschmir, schleicht sich Navreh mit einem rituellen Thali aus Reis, Spiegel, Blumen und Münzen heran – eine Spiegelung des vergangenen Jahres und ein Versprechen für das kommende. Cheti Chand feiert Wasser, Weisheit und Wiedergeburt unter Sindhi-Familien im ganzen Land. Der Tag ist eine ehrfürchtige Huldigung an Jhulelal, die Flussgottheit, die ruhig und klar leitet.
Im Osten des Landes gleitet Pohela Boishakh wie ein Tagore-Lied in Bengalen hinein – seelenvoll und schwingend. Der Duft von Hilsa mischt sich mit Sandelholz, Schaufenster werden mit Alpona-Kunst geschmückt, und neue Geschäftsbücher werden mit Mantras und Mishti eröffnet. In Assam tanzt Rongali Bihu mit grenzenloser Freude herbei. Ochsen werden gebadet, Älteste geehrt und Felder verwandeln sich in Bühnen der Feier. In den Stammesherzen von Odisha und Jharkhand werden Maha Vishuba Sankranti und Sarhul nicht mit Feuerwerk gefeiert, sondern mit Waldgebeten und Salbaum-Opfern… erdig, intim, kraftvoll. In Manipur weist Cheiraoba (wörtlich: den nächsten Hügel besteigen) auf bessere Tage hin.
Im Westen entfaltet sich Gudi Padwa in Maharashtra und Goa wie ein Banner des Optimismus… leuchtende Gudi-Fahnen erheben sich von Häusern in den Himmel, Mangoblätter und Neem werden wie Kränze der Widerstandskraft aufgehängt. Am selben Tag ruft Thapna in Marwari-Häusern die Tradition, während Konkani-Familien Navreh auf ihre eigene heilige Weise spiegeln. Und dann gibt es noch das Parsi-Navroz, das mit dem Duft von Rosenwasser und gerösteten Nüssen eintrifft – ein Fest des Feuers, der Reinigung und der kosmischen Ausrichtung.
Im Süden begrüßen Feiernde Ugadi mit Ugadi Pachadi (einem sechsgeschmackigen Gericht), das die Essenz des Lebens selbst widerspiegelt. In Tamil Nadu erwacht Puthandu mit einem Tableau des Überflusses, das gleich morgens für Glück betrachtet wird. In Kerala leuchtet Vishu golden – von Feuerwerk am Morgen bis zu Festmählern, die sich genüsslich bis in den Nachmittag ziehen. Selbst in abgelegenen südlichen Dörfern markieren Stammesgemeinschaften ihren eigenen himmlischen Neubeginn. Einige lassen sich vom Mondlicht leiten, andere vom Gesang der Vögel.
In ganz Indien trägt das Neujahr nicht nur ein einziges Gesicht. Es kann mit Pfauenfedern, Tempelglocken, Öllampen oder Trommelschlägen aufsteigen. Aber überall trägt es dieselbe stille Sehnsucht nach einem Neubeginn, nach einem Aufblühen. Denn in Indien ist das neue Jahr kein Datum. Es ist ein Gefühl, auf das es sich immer zu warten lohnt.